In einer Trauerkarte, die den Tod des Malers und Zeichners Heino Naujoks anzeigte, hieß es ein wenig emphatisch: „Mit ihm geht eine Ära zu Ende.“ Bei genauerem Hinsehen ist diese Aussage jedoch kaum übertrieben. Mit Heino Naujoks ist einer der letzten Mitglieder jener Künstlergruppen, – die Namen „SPUR“, „WIR“, „GEFLECHT“ und „Kollektiv Herzogstraße“ bezeichnen nur die bekanntesten und wirkmächtigsten – von uns gegangen, mit denen München seinen Ruf und seine Bedeutung in der Kunstgeschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begründet hat.
Geboren wurde Heino Naujoks 1937 in Köln als Sohn eines Arztes und Universitätsprofessors. Aufgewachsen ist er in Marburg/Lahn und Frankfurt am Main in einer Familie und Umwelt, deren humanistisches Erbe ihn zeitlebens begleitet hat. „Schon als Schüler in Frankfurt“, schrieb Naujoks, „haben mich die Bilder Beckmanns im Städel fasziniert, ja geradezu aufgeregt, etwa das ‚Stillleben mit Saxophon’ mit seiner strengen Räumlichkeit und der fast surrealen Figuration. […] Von den Bildern Beckmanns gingen die ersten entscheidenden Impulse aus.“ Doch bei Beckmann sollte es nicht bleiben. 1957 ging er nach München, besuchte dort die Zeichenkurse der Städtischen Gewerbeschule und nahm an der Internationalen Sommerakademie in Salzburg unter der Ägide von Oskar Kokoschka teil. Im Herbst 1958 wurde er in die Malklasse von Erich Glette (Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste seit 1959) an der Münchner Kunstakademie aufgenommen, bei dem er 1963 das Diplom erwarb.
Bereits 1959 gründete Heino Naujoks zusammen mit seinen Kommilitonen Florian Köhler und Helmut Rieger die Künstlergruppe WIR mit. Später kamen Hans Matthäus Bachmayer und Reinhold Heller dazu. Und schließlich, 1965, schloss sich diese Gruppe mit der „Spur“ und deren Künstlern, darunter Helmut Sturm und Lothar Fischer, zum „Geflecht“ zusammen. Nicht zuletzt unter dem wachsenden Einfluss der Pop-Art entstanden – in der Regel als Gemeinschaftsarbeiten – die dreidimensionalen „Anti-Objekte“, technische Bauelemente und Automobile ergänzten des traditionelle Vokabular.
„Ausgerechnet der Barock“, schrieb Gottfried Knapp in seinem Aufsatz „Bildersturm“, „ausgerechnet der Barock, den die Ideologen der Moderne als den historischen Gegenpol zu allem empfanden, was eine zukunftgerichtete Kunst brauchte, wurde für die Mitglieder der Gruppe WIR zu einer künstlerischen Offenbarung.“ Vor allem die barocke, sakrale Deckenmalerei und ihr Zusammenspiel mit skulpturalen Elementen und der umgebenden Architektur in den Gesamtkunstwerken des Spätbarock eröffnete buchstäblich den Blick auf Bildordnungen, die drohten, in Vergessenheit zu geraten. Die Fresken an den Kirchenhimmeln führten vor, wie sich eine, von den Zwängen der Form- und Farbperspektive befreite Malerei, mit zeitgenössischen Inhalten füllen ließ. Die WIR-Künstler zogen gegen das zeitgenössische Diktat der ständigen Innovation ins Feld, wenn sie voller Pathos ausriefen: „Wir stellen die Echtheit des Gefühls gegen die klägliche Originalitätssucht der Avantgarde. Wir verzichten auf diesen Titel und das damit verbundene Prädikat ‚Neu’“. Die Verhältnisse sollten zum Tanzen gebracht werden; die Grenzen von Kunst und Leben, von Utopie und gesellschaftlicher Wirklichkeit verschwimmen und schließlich ganz verschwinden. Die Prinzipien von „Geflecht und Schichtung“ sollten als Grundlage aller zukünftigen Kunst dienen. Viele dieser Ideen sind in den 1960er Jahren zum Gegenstand von Künstlermanifesten geworden. Einige von ihnen hat Helmut Naujoks mitentwickelt und mitunterzeichnet. „Heute würde ich das so nicht mehr unterschreiben“, bekannte er in einem Interview mit Kati Thiel. Doch in Gesprächen mit ihm wurde schnell deutlich, wie sehr ihn diese Zeit, die kollektiven Mal- und Gestaltungsprozesse und schließlich die aktive politische Arbeit geprägt und beeinflusst haben. Die Gründung und konzeptuelle Orientierung der Gruppen „Wir“ und „Geflecht“ waren Schlüsselerlebnisse, die lange fortwirkten. „Die Zusammenarbeit in der Gruppe“, sagte Naujoks, „war meine eigentliche Akademie“. Nach deren Auflösung im Jahr 1968 musste er seinen eigenen Weg suchen und gehen. Was ihm, die subkutanen Strömungen zum Fließen bringend, in hohem Maße gelungen ist. In den 1970er und 1980er Jahren schuf er Werke für den öffentlichen Raum, große Wandbilder u. a. für die TU München, das Klinikum Großhadern und das Staatsarchiv in Augsburg.
In einem 2017 geführten Gespräch machte er mich auf den Roman „Geweb und Fels“ (The Web and the Rock) von Thomas Wolfe aufmerksam. Aus diesem Roman habe er – ein begeisterter Leser, nicht nur des Werkes von Thomas Wolfe – die Erkenntnis gewonnen, dass das irrationale, wuchernde Gewebe im Fels und durch den Fels gestoppt werden muss. Auf sein eigenes Werk übertragen hieß dies, aus vielen Skizzenbüchern und spontanen Einfällen Form zu destillieren.
Der Beginn eines Werks war für Heino Naujoks häufig leicht, offen und frei. „Ich arbeite an der Leinwand ohne Skizzen, ohne Vorzeichnungen, ohne Gegenstand, ohne Plan, also eigentlich ohne Bildkonzept. Es beginnt mit dem Wunsch, in den Bildprozess hineinzukommen, frei zu werden. Dafür brauche ich viel Zeit. Erst dann wähle ich mein Bildformat aus und mein Material. Alles kann Auslöser werden für Wege, die in die Bildgestaltung führen.“ Der Prozess der Werkentstehung war für ihn ein ständiger Dialog zwischen Farbe, Form und Malgrund, von Versuch und Irrtum. Wichtig war, dass der Ausgang offen blieb und die Spannung aufrechterhalten wurde bis aus chaotischen Anfängen Verdichtung und Formfindung entstand.
In den letzten Jahrzehnten seines Schaffens beschäftigte sich Heino Naujoks auch wieder mit der Figur, die jedoch innerhalb des dramatischen, dynamisierten Bildraumes oft nur schwer zu entdecken ist. In einem Interview mit dem Komponisten Wolfgang Rihm stieß er auf den Begriff „Placement“, einem Terminus aus dem Training beim klassischen Ballett. Wo hat ein Körper seinen Ort? Und worin besteht der künstlerische Eingriff bei einer Veränderung dieses Ortes? Ein zentrales Moment seiner malerischen Arbeit wurde die Ausrichtung eines Körpers im Raum, seine Bewegung und Veränderung sowie die Suche und das Auffinden von Balance im Bildraum. Es blieb ein Prozess mit offenem Ausgang, der häufig in eindrucksvolle Bilder mit großer Sogwirkung einmündete.
Mit Heino Naujoks haben Freunde und Weggefährten und nicht zuletzt die Mitglieder unserer Akademie, der er seit 2007 angehörte, einen bedeutenden Künstler und anregenden, klugen Gesprächspartner verloren.
Andreas Kühne