Am 31. Juli 2025 starb Robert Wilson in Water Mill, New York, im Alter von 83 Jahren. Kaum eine Berufsbezeichnung wird diesem Künstler gerecht. Theaterregisseur und -autor, Choreograf, Maler, Architekt, Lichtdesigner – sein Leben war ein Leben für die Künste. „Ich sehe alles als Teil eines Ganzen. Mein primäres Interesse gilt dem Theater, weil es alles umfasst: Architektur, Tanz, Musik, Licht, Malerei und Poesie“[1], sagte er 2021 in einem Interview. Für viele, die mit seinem Werk in Berührung kamen, wurde er zum Inbegriff eines Theaters, das Bild, Klang, Bewegung und Zeit zu einem radikal neuen Ganzen verschmilzt.
Geboren am 4. Oktober 1941 in Waco, Texas, wuchs Wilson in einer stark konservativen, ländlichen Umgebung auf. Früh offen homosexuell lebend, fand er erst nach seinem Umzug nach New York in den 1960er Jahren den Raum, in dem sich sein künstlerisches Denken entfalten konnte. Am Pratt Institute studierte er Kunst und Architektur; über diese beiden Disziplinen kam er schließlich zum Theater. In SoHo begegnete er Künstlern wie George Balanchine, Merce Cunningham und John Cage, die für ihn zu prägenden Einflüssen und später zu Kollaborateuren wurden. In einem Loft in der Spring Street entstand die Byrd Hoffman School of Byrds, eine Gemeinschaft von Künstlerinnen und Künstlern, benannt nach der Tanztherapeutin Byrd Hoffman, die Wilson 1958 geholfen hatte, sein schweres Stottern zu überwinden.
1968 adoptierte Wilson den taubstummen, 13-jährigen Raymond Andrews, den er „den zweiten wesentlichen Einfluss“ auf seine Arbeit nannte.[2] In der Zusammenarbeit mit ihm entstand Deafman Glance (1970), eine „stumme Oper“, eine wortlose Bilderfolge, mit der Wilson in Nancy und Paris große Erfolge feierte und internationale Aufmerksamkeit gewann. Spätestens mit Einstein on the Beach, 1976 beim Festival d’Avignon gezeigt und in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Philip Glass entwickelt, öffneten sich ihm endgültig die Türen zur europäischen Bühne. Schon 1970, als Architekturstudent in München, war er vom kulturellen Leben der Stadt fasziniert – im europäischen Theater fand er bald seinen eigenen ‚perfect playground‘.
Die Liste seiner Produktionen füllt ganze Bücher: Death Destruction & Detroit (1979) an der Schaubühne Berlin, The Black Rider (1991) am Thalia Theater Hamburg, das monumentale Projekt the CIVIL warS: a tree is best measured when it is down in den 1980er Jahren sowie zahlreiche Adaptionen von Klassikern. Weniger bekannt, aber für manche Wegbegleiter entscheidend war DiaLog, mit dem Wilson 1977 beim Internationalen Festival des Freien Theaters in München auftrat. Das Stück entstand in Zusammenarbeit mit dem autistischen Künstler Christopher Knowles, den Wilson als 13-Jährigen kennenlernte und der in den 1970er Jahren zu einem seiner wichtigsten kreativen Partner wurde. Musik, Bewegungen, Knowles’ Texte – „erste Rohbausteine einer Art von Wilson-Ästhetik“[3]. Diese Vorstellung zog noch keine Besuchermengen an, wir waren ein Häuflein von Theaterbegeisterten. Dennoch bedeutete diese kryptische Produktion für mich als jungen Theatermacher eine Initiation in eine Kunstform, die keine Gewohnheit gelten ließ. Man verstand nichts – und gleichzeitig alles.
Es folgten weitere Arbeiten in München: The Golden Windows (1982), The Forest (1988), Swan Song (1989) und The Moon in the Grass: once never forever (1994) an den Münchner Kammerspielen. Dazu kamen Ausstellungen im Lenbachhaus, der Villa Stuck und in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, deren Mitglied er 1992 wurde. Gerd Albers nannte ihn eine „höchst vielseitige und interessante Künstlerpersönlichkeit“, einen „Magier der theatralischen Szene“, dessen Produktionen „die Vorstellung dessen, was Theater sein kann, radikal verändert“ haben.[4]
Sein Stil entzog sich eindeutigen Zuschreibungen. Ein Kritiker sprach von einer „verspielten Verbindung aus deutschem Expressionismus und japanischem Kabuki mit amerikanischem Vaudeville, Musical Comedy und Stummfilm-Clownerie“[5] – eine Beschreibung, die zwar treffend wirkt, aber doch nur eine Annäherung an das Ungreifbare bleibt. Licht war bei Wilson nie bloß Beleuchtung, sondern Architektur, Struktur, ein eigenständiger, ‚mitspielender‘ Akteur.[6] Farben, Schatten und Lichtachsen reorganisierten den Raum, eröffneten neue Perspektiven, verlangsamten die Zeit.
Wilson arbeitete langsam, präzise, mit Skizzen, Diagrammen, Zahlenreihen und mathematischen Gleichungen. Seine Stücke entstanden wie Collagen, in denen jedes Element – Licht, Bewegung, Klang, Text – so konzipiert war, dass es auch für sich allein bestehen konnte. Aus dieser strengen Konstruktion entwickelte sich paradoxerweise eine große Freiheit der Wahrnehmung: Die Inszenierungen eröffneten weite Räume der Imagination, in denen das Publikum wie Spaziergängerinnen und Spaziergänger der Fantasie sein konnte. Robert Wilson hat unser Verständnis von Zeit, Raum und Bild im Theater verändert. Er lehrte, dass ein Lichtkegel eine Geschichte erzählen kann, dass Stille lauter sein kann als ein Monolog, dass Sinn sich nicht nur im Wort, sondern im Bild, im Rhythmus, in der reinen Präsenz eines Körpers im Raum entfaltet.
Eine Probe in den Münchner Kammerspielen, die ich mitverfolgen durfte, mag exemplarisch dafürstehen: Eine Schauspielerin stand minutenlang scheinbar ‚untätig‘ im Raum, nur eine minimale Verschiebung ihres Armes veränderte plötzlich das gesamte Bild. Raum, Licht, Gestik, Sprache – alles schien so abstrakt und neu, und doch war da eine tiefe emotionale Unmittelbarkeit. Der ‚Inhalt‘ musste sich im Kopf der Zuschauenden bilden. Wilson verlangte seinem Publikum viel ab, einen „gnadenlosen Anspruch“ nannte man das, aber gerade darin lag seine Großzügigkeit: in der Einladung, mitzudenken, Bilder zu ergänzen, Bedeutungen nicht serviert zu bekommen, sondern selbst zu schaffen. Für manche, die zuvor vor allem an Text und Psychologie orientiertes Theater kannten, war dies eine Befreiung.
Zu Wilsons Lebenswerk gehören Kooperationen mit Größen wie Heiner Müller, Tom Waits, David Byrne, Susan Sontag, Laurie Anderson, Lou Reed und vielen anderen. Für seine Beiträge zur Kunst erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz und den Goldenen Löwen der Biennale in Venedig; eine seiner Arbeiten war für den Pulitzer-Preis nominiert. Mit dem Watermill Center auf Long Island, das er 1992 gründete, schuf er eine internationale Kunststiftung, ein Laboratorium für neue Formen des Theaters, eine Denkfabrik und einen Arbeitsort für junge Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt. Dort leitete er seit den 1990er Jahren Workshops und blieb bis zu seinem Tod Lehrer, Mentor und Ermöglicher.
Trotz aller Erfolge blieb sein Blick nach vorn gerichtet. „Ich habe früh gelernt, immer das nächste Projekt im Kopf zu haben“[7], sagte er einmal. Dieses ‚Weiter‘ war kein Getriebensein, sondern Ausdruck eines Denkens, das von Kindheit an abstrakt war und seine Entscheidungen oft mit Zahlen und Strukturen erklärte.
Eine letzte Möglichkeit, Wilsons Werk aus eigener Hand zu erleben, bietet sich ab dem 5. Februar 2026 im Opera Balet Ljubljana mit Tristan und Isolde[8], einer Koproduktion mit der Opera Wrocław (2027), dem Théâtre La Monnaie in Brüssel (2028) und dem Teatro Real in Madrid (2030). Bis zu seinem Tod arbeitete er an dieser Inszenierung, die gleichsam als Schlussstein und Öffnung in die Zukunft gelesen werden kann. Für jene, die ihn seit den 1970er Jahren begleitet haben, mindestens für mich, schließt sich damit ein Kreis: vom staunenden jungen Studenten im Zuschauerraum einer Probe bis zum älter gewordenen Zuschauer im Opernhaus, der weiß, dass ihn erneut Bilder erwarten, die sich schnellen Erklärungen entziehen und ihn dem fremden Rhythmus von Wilsons Zeit aussetzen werden.
Axel Tangerding
[1] Jocks, H.-N. (2021). Robert Wilson. Die Lehre des Taubstummen. In A.-K. Günzel (Hrsg.), Kunstforum: Utopia. Weltentwürfe und Möglichkeitsträume in der Kunst (Bd. 275, S. 194-213). Kunstforum.
[2] Linders, J. (Hrsg.), Müller, H. & Wilson, R. (2006). NAHAUFNAHME. Robert Wilson. Mit einem Text von Heiner Müller. Alexander Verlag.
[3] Thomas Petz, Gründer des Internationalen Festival des Freien Theaters, im Gespräch, 16.11.2025.
[4] Gerd Albers‘ Begründung für die Aufnahme von Robert Wilson als Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
[5] „His overall visual concept evokes a playful union of German Expressionism and Japanese Kabuki with American vaudeville, musical comedy and silent-movie clowning.“ (Stephen Holden, The New York Times, 22. November 1993.)
[6] „Light is not an afterthought. It’s something that’s architectural, it’s structure, it’s thought about from the beginning, it’s part of the book, it’s like an actor. So it’s not a decoration.” (Robert Wilson in einem Interview mit John Bell, Theater Week, 03. Januar 1994.)
[7] „I learned a long time ago that you always have the next project in mind.“ (The Talks, https://the-talks.com/interview/robert-wilson/)
[8] Webseite von Robert Wilson https://robertwilson.com