U- und E-Musik gehören nicht in einen Topf
Die geplante Reform des Vergütungssystems der GEMA hätte verheerende Folgen. Von Helmut Lachenmann
Die deutsche Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte, kurz GEMA, plant für Mai eine Änderung in ihrem Vergütungssystem von Aufführungsrechten, das traditionell nach Unterhaltungsmusik (U) und ernster Musik (E) unterschiedet. Vor allem soll die Bevorzugung der E-Musik bei der gesellschaftseigenen Kulturförderung abgeschafft werden, was Komponisten, Interpreten und Verlage ernster zeitgenössischer Musik, die auf Fördergelder viel stärker angewiesen sind als die Unterhaltungsbranche, in finanzielle Notlagen bringen wird. Der Komponist Helmut Lachenmann, der im November 90 Jahre alt wird, warnt in diesem Kommentar vor der Änderung bei der GEMA. F.A.Z.
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Mein fortgeschrittenes Alter – es hält die Bedrohungen, um die es geht, in meinem Fall in Grenzen. Aber seine Belästigungen hindern mich auch, mich mit der notwendigen Energie an der noch stattfindenden Auseinandersetzung zu beteiligen. Ohne Umschweife beginnend: Zwischen U- und E-Musik muss weiterhin unterschieden werden. So wie zwischen Wein und Wasser, es ist sinnlos, diesen Unterschied zu leugnen. Bei aller äußerlichen Gemeinsamkeit handelt es sich um total verschiedene Rezeptionsobjekte, mit unterschiedlichen Funktionen, so wie Alkohol und Trinkwasser beide unverzichtbar sind, oder wie Genuss- und Nahrungsmittel. Das heißt: Bei U und E geht es keinesfalls um dieselbe Art von »Dienstleistung«. Im Falle U geht es in allen Varianten um den unverzichtbaren »Dienst« an der Lebensfreude. Im Falle E geht um die gleichermaßen unverzichtbare, letztlich aber schwierige und anspruchsvollere Erinnerung an unsere ästhetischen Bedürfnisse und Neugier als Teil unserer geistigen Versorgung.
Diese unterschiedlichen Rollen und dieser dementsprechend unterschiedlich gehandhabte Umgang mit Musik hat zu der Unterscheidung von U- und E-Musik geführt, woran sich für den verantwortungsvoll Denkenden überhaupt nichts geändert hat, es sei denn die bei beiden inzwischen technologisch vereinfachte schnellere Verfügbarkeit und damit ermöglichte Zweckentfremdung.
Das schließt nicht aus, dass U-Musik, so wie jede kreative Unternehmung, uns auch geistig anregen, gar beschäftigen kann und dass E-Musik, wenn inzwischen vertrauter, zur Steigerung der Lebensfreude beitragen kann. Aber der Dienst an der E-Musik, ihre Pflege, das mit ihrem Beitrag zur Kultur verbundene Interesse und Bedürfnis, sich ästhetisch anregen, berühren, auch provozieren zu lassen und sich auch auf ein ästhetisches Abenteuer einzulassen, derlei war früher so gut wie ausschließlich Sache der herrschenden Klassen – so bei Bach, Mozart, Beethoven, Wagner. Und in einer Situation, wo sich solche Schranken im modernen demokratischen Selbstverständnis aufgehoben haben, ist solcher Dienst der E-Musik existenziell gefährdeter als derjenige an der U-Musik. Er ist gefährdeter im Zeitalter von Angebot und Nachfrage nicht zuletzt, einfach weil seine Angebote viel langsamer, mühsamer ihren Weg sich schaffen können.
Bei der Aufgabe, diesen beiden Dienstleistungen ihr Dasein zu garantieren, werden die Rezipienten im einen Fall als »Genießer« solcher Dienstleistung auf verschiedenem Niveau angesprochen und »versorgt«.
Im anderen Fall geht es um den nicht weniger menschenfreundlichen, aber als anspruchsvollen, manchmal auch unbequemen, auch ermunternden Appell, beziehungsweise um die Erinnerung an unser im Alltag leicht verdrängtes Glück (auch unsere Verantwortung) als geistfähige Kreaturen.
Diese beiden Dienste an den Menschen in einen Topf zu werfen und deren unterschiedliche Substanzen per Mehrheitsentscheidung zum Nachteil der E-Musik zu verwischen und die mit ihr Verbundenen zu schädigen, indem deren Beiträge dem geistlosen und blinden Mechanismus von Angebot und Nachfrage ausgesetzt werden, dem sie nicht gewachsen sind, halte ich für verantwortungslosen Missbrauch des Vorteils der Mehrheit, gleichgültig gegenüber dem damit ergehenden gespenstischen Signal an unsere Kulturgesellschaft, an die darin Verantwortlichen, an die der Kunst zugeneigten Veranstalter, Erzieher in den Schulen und Hochschulen, im Elternhaus, gleichgültig und unbelehrbar auch im Rückblick auf die Opfer und Schicksale jener Kunstschaffenden seit Bach, Beethoven, Schubert, Bruckner, deren Werke, geschaffen ohne Rücksicht auf den Geschmack der Zeitgenossen, inzwischen als opulente Wirtschaftsfaktoren ihren Nutzern einen materiellen Wohlstand ermöglichen, von dem sie selber nie zu träumen gewagt haben.
Eine Mehrheitsentscheidung in diesem Zusammenhang durchzuführen, erinnert mich an die verhängnisvollen Mehrheitsentscheidungen unserer jüngsten Geschichte in anderen, nicht weniger brisanten Bereichen unseres Daseins. Mehrheitsentscheidungen sollten den »mündigen« Mitmenschen, den dem Ganzen gegenüber verantwortlich und nicht gleichgültig nur an den eigenen Vorteil Denkenden voraussetzen.
Es ist höchste Zeit, dass ein beide beziehungsweise alle Sparten respektierender und informierender Dialog zu den Selbstverständlichkeiten auch und nicht zuletzt in der GEMA in Gang gesetzt wird.
Autor: Lachenmann, Helmut
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