Die Schweiz hat immer bedeutende Essayisten unter ihren Schriftstellern gehabt, die weit über die Landesgrenzen hinaus gewirkt haben: Fritz Ernst und Max Rychner, Werner Weber und Hanno Helbling, Denis de Rougemont und Francois Bondy, Konrad Farner und Iso Camartin, Carl Jakob Burckhardt und Martin Meyer … gar nicht zu reden von den Schriftstellern, deren Aufsätze, Kritiken, Ermahnungen und Polemiken literarischen Rang beanspruchen, von Max Frisch zu Adolf Muschg und von Peter Bichsel und Urs Widmer bis zu Ilma Rakusa.
Unter all diesen vielen und sehr unterschiedlichen Temperamenten nimmt der im Mai 2025 in Zürich verstorbene Peter von Matt einen Sonderrolle ein. Nein, er sitzt nicht auf einem höheren oder breiteren Thron, sein Leben ist nicht durch Skandale oder sonstige Auffälligkeiten bestimmt, durch wutschnaubende Verrisse oder übertriebene Heiligsprechungen; er hat bei Emil Staiger mit einer Arbeit über Grillparzer promoviert und sich mit einer Arbeit über E.T.A. Hoffman habilitiert und war fünfundzwanzig Jahre Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich. Seit fünfzig Jahren lebte er mit seiner Frau Beatrice von Matt, einer hervorragenden Essayistin und Literaturkritikern, und den zwei Kindern in seinem Haus in Dübendorf bei Zürich, das er nur gelegentlich verließ, um sich in einer der Akademien zu zeigen, die ihn zu ihrem Mitglied gemacht hatten. Da saß er dann mit seinem weißen Haarschopf über den immer erstaunt wirkenden Kinderaugen und kommentierte liebevoll-spöttisch und ironisch, was die lautstärkeren Kollegen so von sich gaben. Er fühlte sich bei den Schriftstellern wohl, die nicht ausschließlich über sich selber sprachen; zu Theoretikern hielt er Distanz, besonders zu solchen, die nur i h r e n Blick auf die Literatur gelten ließen. Präsidentschaften oder für das Prestige wichtige Ämter hat er nicht angestrebt oder innegehabt – bei dieser Formulierung hätte er gelacht! –, dafür aber war er bei der Max Frisch-Stiftung aktiv und wesentlich an der Entstehung des Schweizerischen Literaturarchivs beteiligt.
Also ein Gelehrter?
Ja, auch, aber viel mehr! Peter von Matt war der entschiedenste Verteidiger der Literatur. Von einem Überdruss an den „alten Geschichten“ war bei ihm nichts zu spüren, im Gegenteil: immer, wenn verkündet wurde, etwas sei nun endgültig zu Ende, ausgelaugt und uninteressant, musste man nur eine Seite Peter von Matt lesen, um wieder Boden unter die Füße zu kriegen. Er war der sorgfältigste Leser, den man sich vorstellen konnte, und er bestand darauf, dass der Text an erster, zweiter und dritter Stelle steht, und wenn man dann noch eine Theorie brauchte – bitte sehr. Natürlich hatte er, der als erstes Buch 1972 eine Studie über Literaturwissenschaft und Psychoanalyse veröffentlichte, alles gelesen, was die Gemüter in den letzten sechzig Jahren erregte, aber das schob er beiseite, wenn er sich über ein literarisches Buch oder über ein Gedicht beugte – man lese nur einmal die kurzen Texte nach, die er über „seine“ Gedichte für die „Frankfurter Anthologie“ geschrieben hat und die später in dem Band Die verdächtige Pracht gesammelt erschienen – lauter kleine Meisterwerke des genauen Lesens. Er war und blieb bis zum Ende zutiefst davon überzeugt, dass man aus der Literatur alles herauslesen konnte, was über den Menschen zu sagen ist.
Seit 1983 war ich für Jahrzehnte sein Lektor und später sein Verleger, der gar nicht genug Manuskripte von ihm erhalten konnte. Von seiner „Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts“, die unter dem Titel … fertig ist das Angesicht 1983 erschien, über den Liebesverrat bis zu Verkommene Söhne, missratene Töchter und bis zu seinem großen Buch über die Politik und die Literatur der Schweiz, Das Kalb vor der Gotthardpost – ich war jedes Mal glücklich, wenn wir ein neues Buch von Peter von Matt verlegen durften.
Um ein Beispiel für seinen Enthusiasmus zu geben. Ich hatte vor ein paar Jahren in der ZEIT die Gesammelten Erzählungen der ziemlich in Vergessenheit geratenen Adelheid Duvanel besprochen, die auch Peter von Matt liebte. Dazu schrieb er mir: „Ich habe fast geheult vor Freude. Das ist eine historische Leistung. Ich werde Dir dafür einen lebendigen Hirsch schenken, einen Sechszehnender. Du kannst in Eurem Garten auf ihm reiten oder im nahen See schwimmen. Ich umarme Dich spürbar, Peter.“
Ich weiß, gegen den Tod sind wir machtlos. Aber dass ein Leser (und Freund) wie Peter von Matt sterben muss, ist eine Tragödie.
Michael Krüger