„Die Welt klingt zu laut, zu aggressiv. Aber die Stille ist der Raum, aus dem alles wächst. Das bedeutet nicht, dass nichts klingt. Es ist vielmehr die klingende Sehnsucht nach Stille.“
Diese Worte von Sofia Gubaidulina hat Akademiepräsident Winfried Nerdinger seinem Schreiben zu ihrem Tod vorangestellt: „Liebe Mitglieder, leider muss ich Sie darüber informieren, dass unser verehrtes Mitglied, Sofia Gubaidulina, am 13. März 2025 verstorben ist. Wir verlieren eine große Komponistin und eine Künstlerpersönlichkeit, die wir im Januar 2019 bei der Veranstaltung „Wie klingt Europa im 21. Jahrhundert“ persönlich in unserer Akademie erleben durften, Wir werden Frau Gubaidulina immer ein ehrendes Gedächtnis bewahren.“
Im März 1999 hatte Peter Ruzicka ihre Zuwahl zum korrespondierenden Mitglied der Bayerischen Akademie folgendermaßen begründet:
„Sofia Gubaidulina wurde 1931 in Tschistopol (Tatarische Republik) geboren. 1954 beendete sie ihre Ausbildung am Konservatorium von Kasan in den Fächern Klavier (bei Grigori Kogan) und Komposition und setzte dann bis 1959 ihr Kompositionsstudium bei Nikolai Pejko, einem Assistenten von Dmitri Schostakowitsch, am Moskauer Konservatorium fort. Anschließend erfolgte eine Aspirantur bei Wissarion Schebalin. Seit 1963 ist Sofia Gubaidulina als freischaffende Komponistin tätig. 1975 gründete sie zusammen mit den Komponisten Wjatscheslaw Artjomow und Viktor Suslin die Gruppe „Astreya“, in der man auf seltenen russischen, kaukasischen und mittelasiatischen Volksinstrumenten improvisierte und zu bisher unbekannten Klangerlebnissen und neuen Erfahrungen musikalischer Zeit gelangte, was ihr Schaffen wesentlich beeinflusste.
Seit Beginn der 1980er Jahre gelangten ihre Werke – insbesondere dank des tatkräftigen Einsatzes von Gidon Kremer – rasch in die westlichen Konzertprogramme, sodass die Komponistin neben Schnittke, Denissow und Silwestrow zu den führenden Vertretern der Neuen Musik aus der damaligen Sowjetunion gerechnet wird. Dies bekunden die vielen Aufträge namhafter Institutionen (darunter BBC, Berliner Festwochen, Library of Congress) sowie die stattliche Zahl der CD- Einspielungen.
Sie erhielt einen 2. Preis beim Internationalen Kompositionswettbewerb von Rom (1974), den Prix de Monaco (1987), den Koussevitzky International Record Award (1989) für die CD-Einspielung ihres Violinkonzertes „Offertorium“, den Premio Franc Abbiato (1991), den Heidelberger Künstlerinnenpreis (1991) sowie den Russischen Staatspreis (1992).
Wenn Sofia Gubaidulina auch auf Grund ihrer Erziehung dem russischen Kulturkreis zuzurechnen ist, so spielt doch ihre tatarische Abstammung in ihrem Schaffen eine nicht unbedeutende Rolle. Sie ist dabei aber keine Nationalkomponistin nach romantischem Verständnis, sondern eine Komponistin unserer Zeit, die alle Techniken ihres Handwerks beherrscht, und sich Erkenntnisse der europäischen und amerikanische Avantgarde für ihre Zwecke nutzbar macht. Auch Elemente östlicher Philosophie sind in ihre Musik eingeflossen.
Typisch für Gubaidulinas Schaffen ist das nahezu vollständige Fehlen von absoluter Musik. In ihren Werken gibt es fast immer etwas, das über das rein Musikalische hinausgeht. Dies kann ein dichterischer Text sein – der Musik unterlegt oder zwischen den Zeilen verborgen –, ein Ritual oder irgendeine instrumentale „Aktion“. Einige ihrer Partituren zeugen von ihrer Beschäftigung mit mystischem Gedankengut und christlicher Symbolik. Ihr literarisches Interesse ist sehr vielseitig. So vertonte sie altägyptische und persische Dichter, aber auch moderne Lyrik (z. B. Verse von Marina Zwetajewa, zu der sie eine tiefe geistige Verwandtschaft empfindet). Seit 1992 lebt Sofia Gubaidulina in der Nähe von Hamburg.“
Im Herbst 1982 hatte es in Moskau durch Vermittlung des Sikorski-Verlagsdirektors Jürgen Köchel in der Wohnung von Edison Denissow ein „konspiratives“ Treffen mit der bundesdeutschen Delegation des Komponistenverbandes gegeben. Dabei sind wir zusammen mit Killmayer, Lachenmann u. a. nicht nur Alfred Schnittke und weiteren „dissidenten“ KomponistInnen, sondern auch Frau Gubaidulina begegnet. Wer hätte sich träumen lassen, sie, aber auch Schnittke und Suslin nur wenige Jahre später in Hamburg wieder zu treffen.
Zusammen mit Viktor Suslin und mit dessen Sohn Alexander hatte sie die Improvisationsgruppe „Astreya“ wieder aufleben lassen. Unvergesslich unser gemeinsames freies Spielen in der Hamburger Johanniskirche im April 2000. In meiner Hamburger Zeit als Lehrstuhlinhaber Komposition und Sektionsleiter Musik der dortigen Freien Akademie der Künste haben mit ihr viele bewegende und intensive Konzerte, Gespräche und Workshops stattgefunden, gipfelnd in der russischen Klangnacht 2006 in der Musikhochschule zu Schostakowitschs Hundertstem mit Frau Gubaidulina als Ehrengast.
Mit dem sie betreuenden Sikorski-Verlagsdirektor Hans-Ulrich Duffek war sie im Januar 2019 dann nochmal in München aufgetreten, gemeinsam mit dem inzwischen ebenfalls verstorbenen Cristóbal Hallfter und sprach Eindringliches zur Musik des 21. Jahrhunderts. Da war ihr letztes großes Werk “Zorn Gottes“ gerade im Auftrag der Salzburger Festspiele im Entstehen begriffen.
Auch wenn in ihrer niemanden kalt lassenden Musik die Macht von Zahlen wirksam ist: Sie zählte nie zu jenen Komponisten, die, ähnlich wie Architekten, mit klingenden Proportionen etwas „bauen“. Eher verglich sie ihr musikalisches Arbeiten mit einem Züchten und Hegen in der Art eines liebenden Gärtners, schreibt der ehemalige BR-Musikredakteur Helmut Rohm in seinem Nachruf für BR Klassik: Sie verstand sich darauf, die Unerbittlichkeit der Zeit zu verwandeln, aufzuheben, und Resonanzen zu ermöglichen mit dem Klang einer namenlosen Präsenz.
„Ich bin überzeugt, dass die Kunst Hauptwurzeln hat,“ sagte Sofia Gubaidulina einmal, „ob es heidnische oder irgendwelche andere Konfessionen betrifft, und zwar auf einer Dimension, die uns verbindet. Mit Vollkommenheit, absoluter Wahrheit, die unerreichbar ist aber immer existiert“.
Peter Michael Hamel
Ostermontag 2025